Anstieg der Migration "Absolut vorrangige Aufgabe, die Zahl der Flüchtlinge deutlich zu verringern"

Von Ulrich Exner
Korrespondent

Stand: 19.02.2023 | Lesedauer: 6 Minuten

Jetzt gerät Kanzler Scholz (SPD) aus den eigenen Reihen unter Handlungsdruck wegen der stark anwachsenden Migration. Es geht um Milliardenkosten, bei denen die Länder vom Bund Hilfe verlangen. Die Union dringt darauf, den Zuzug schnell und spürbar zu reduzieren. Bei den Grünen rumort es.

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Bund und Länder steuern auf einen Konflikt um die Kosten des erheblichen Anstiegs der Migration zu. Nach dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) forderte auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die Bundesregierung auf, den Kommunen mehr Geld für Unterbringung und Integration zur Verfügung zu stellen.

Die bisher avisierten Bundesmittel deckten gerade einmal ein Fünftel der in diesem Jahr absehbar entstehenden Kosten ab. Weil kündigte an, dass das Thema Flüchtlingsunterbringung bei der nächsten Ministerpräsidenten-Konferenz am 16. März in Berlin eine zentrale Rolle spielen werde.

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Zuvor hatte bereits Weils Kollege Wüst die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels von Bund, Ländern und Gemeinden am vergangenen Donnerstag als "enttäuschend" bezeichnet und die Bundesregierung aufgefordert, ihre Beteiligung an den Kosten deutlich zu erhöhen. Damit ist klar, dass sowohl die Unions- als auch die SPD-regierten Länder sich gegen die bisherige Linie des Bundes stellen werden. Weil ist amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidenten-Konferenz, Wüst sein Stellvertreter. Die beiden koordinieren die Haltung der Länder gegenüber dem Bund.

Weil erklärte seine Forderung mit der Not der Kommunen, die "mit Recht auf ihre schwierige Situation" verwiesen und mehr Unterstützung einforderten. "Wir werden dieses Thema ganz oben auf die Agenda der nächsten Ministerpräsidenten-Konferenz setzen müssen und auf eine stärkere Hilfe durch den Bund dringen", sagte Weil WELT. "Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die Unterbringung und Versorgung der Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und Gewalt zu uns fliehen. Wir brauchen eine faire und verlässliche Lastenteilung."

Weil begrüßte, dass Bund, Länder und Kommunen nach dem Flüchtlingsgipfel "in der Organisation der Unterbringung der Geflüchteten noch intensiver zusammenarbeiten wollen". Das allein helfe aber nicht. "Der Bund muss sich auch finanziell noch stärker beteiligen."

Niedersachsens Ministerpräsident Weil: "Wir brauchen eine faire Lastenteilung"
Quelle: Soeren Stache/dpa/Archivbilld

Niedersachsens Regierungschef begründete seine Haltung mit Zahlen aus seinem Bundesland. Demnach sind allein dort für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und anderen Migranten im Jahr 2022 rund 1,2 Milliarden Euro an Kosten angefallen, doppelt so viel wie 2021. Vom Bund habe Niedersachsen "nur etwa ein Drittel erstattet bekommen. In diesem Jahr wird es sogar nur etwas mehr als ein Fünftel sein."

In Berlin stieß Weils Forderung vor allem in den Reihen der Koalition auf Skepsis. So verwiesen sowohl die SPD- als auch die FDP-Bundestagsfraktion darauf, dass der Bund den Ländern und Kommunen für die Jahre 2022 und 2023 bereits 6,25 Milliarden Euro zur Bewältigung ihrer Aufgaben zur Verfügung gestellt habe.

"Ergreifen zahlreiche Maßnahmen, um Migration stärker zu steuern und zu ordnen"

Der Flüchtlingsgipfel in Berlin hat sich unter anderem mit der Lastenverteilung bei der Unterbringung befasst. Kommunen und Landkreise forderten vom Bund mehr Geld. Nach dem Gipfel stellte Innenministerin Faeser die Ergebnisse auf einer Pressekonferenz vor.
Quelle: WELT

"Dieses Geld muss aber auch von den Ländern an die Kommunen weitergegeben werden. Hessen und NRW haben hier noch Luft nach oben", sagte der stellvertretende SPD-Fraktionschef Dirk Wiese. Er bekräftigte damit Vorwürfe, dass die Länder das Geld aus der Bundeskasse nicht vollständig an die Kommunen weiterreichten. Entsprechende Vorwürfe hatte auch der Präsident des Landkreistages, Reinhard Sager (CDU), erhoben.

Stephan Thomae, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP, forderte Länder und Kommunen zudem auf, ihre Ausländerbehörden zu reformieren. "Länder und Kommunen sind etwa gemeinsam gefordert, die Arbeitsfähigkeit der Ausländerbehörden stärker in den Blick zu nehmen und zu adressieren, welche Form der Unterstützung der Bund hier leisten kann. Sowohl bei der Einwanderung als auch bei Abschiebungen sind diese kommunalen Behörden ein Nadelöhr, das zulange vernachlässigt wurde."

Grünen-Gruppe fordert Umsteuern auf härtere Gangart

Beim dritten Ampel-Koalitionspartner, den Grünen, wurde noch eine andere, eigene Migrations-Debatte eröffnet. Eine Gruppe aus dem realpolitischen Flügel der Partei, zu der auch der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer gehört, forderte einen grundlegenden Kurswechsel. In einem "Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland" fordert die Gruppe "Vert Realos" unter anderem eine veränderte Asylpolitik. Demnach sollen sich Asylempfänger künftig einordnen in die "geschichtlich gewachsene gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland". Die Gewährung von Asyl setze zudem voraus, dass Asylbewerber beim Aufnahmeverfahren mitwirken und nicht straffällig werden. "Ansonsten verfällt das Asylrecht und damit das Aufenthaltsrecht, was auch eine (möglichst zügige) Abschiebung nach sich ziehen muss."

Gefordert werden zudem die Einrichtung "verpflichtender Aufenthaltszonen an den EU-Grenzen sowie außerhalb der EU unter EU-Kontrolle", eine verstärkte polizeiliche Bekämpfung von Clanstrukturen sowie die Zurückweisung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern ohne Papiere. Falls dies nicht möglich sei, sollten Migranten ohne Papiere "in einer staatlichen Aufnahmeeinrichtung verbleiben, bis ihre Identität geklärt ist".

Die Gruppe, deren Manifest bisher 150 Grüne unterzeichnet haben, begründet ihren Vorstoß mit der These, dass "in Deutschland ein Rechtsruck zu befürchten sei, falls Bürgerinnen und Bürger weiter ihr Sicherheitsgefühl einbüßten". Sie wird in der Partei, aber auch in der Koalition noch für Debatten sorgen. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hat den Ball der "Verts Realos" bereits aufgenommen und möchte innerhalb der Koalition über einen neuen Kurs in der Migrations- und Integrationspolitik sprechen.

Auch der stellvertretende Unions-Fraktionschef, Mathias Middelberg (CDU), fordert eine härtere Gangart. Er betonte auf WELT-Anfrage zwar, dass der Bund sich "angemessen" an den Folgekosten der Migration beteiligen müsse, wies aber zugleich darauf hin, dass es "mit immer mehr Geld nicht getan" sei. "Die absolut vorrangige Aufgabe des Bundes ist es jetzt, die dramatisch ansteigende Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge deutlich zu verringern."

Dazu müsse der Bund "viel entschiedener als bisher auf eine europäische Lösung an den Außengrenzen der EU hinwirken". Nur anerkannte Asylbewerber dürften fair in ganz Europa verteilt werden. "Das Weiterwandern vieler Asylsuchender insbesondere nach Deutschland muss beendet werden."

Middelberg warf Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, bei diesem Thema "versagt" zu haben und fügte hinzu: "Der Bundeskanzler wird diese Aufgabe deshalb jetzt schnell zur Chefsache machen müssen."

Einen "Paradigmenwechsel" in der Migrationspolitik forderte der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Gottfried Curio. Deutschland müsse einen "Maßnahmenkatalog zur Migrationskrise" erarbeiten. Dieser müsse unter anderem beinhalten: "Grenzen dichtmachen - denn über Deutschlands Grenzen kommt niemand ‚auf der Flucht', sowenig wie Afghanen oder Syrer, Nigerianer oder Eritreer beim Erreichen einer EU-Außengrenze sich ‚auf der Flucht' befinden."

Zudem müssten Abschiebungen intensiviert und Integrationskurse deutlich reduziert werden. "Die Integrationsleistung obliegt natürlich demjenigen, der sich zu integrieren hat, sie ist eine Bringschuld", so Curio.

Einen gänzlich anderen Akzent setzte die Linksfraktion im Bundestag. Deren Sprecherin für Flucht- und Rechtspolitik, Clara Bünger, kritisierte das "starre Verteil- und Unterbringungssystem für Asylsuchende" und forderte, Asylsuchenden zu ermöglichen, auch bei Verwandten und Freundinnen unterzukommen und auf die verpflichtende Unterbringung in "menschenunwürdigen Massenlagern" möglichst zu verzichten.

"Man sollte sich jetzt ein Beispiel daran nehmen, was bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine gut funktioniert hat, und das für die Aufnahme aller Geflüchteten zur Anwendung bringen."


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